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Blindgang am Jungfrau-Marathon

Sie liebt Marathons auf Asphalt. Sie fühlt sich auf flachen Strecken am wohlsten. Dennoch startet PluSport-Botschafterin Chantal Cavin am 11. September als erste blinde Teilnehmerin zum Jungfrau-Marathon, einem der härtesten Langstrecken-Rennen der Welt. Wieso tut sie sich das an?

Chantal Cavin ist kein grosser Fan von Bergrennen. Die mehrfache Paralympics-Teilnehmerin und Weltmeisterin im Schwimmen, die seit 2016 Marathons bestreitet, ist nach eigener Aussage besser auf flachen, asphaltierten Strecken. «Aber mein Guide liebt Bergrennen und ich mag es, wenn ich im Training die Natur geniessen kann. Also nehmen wir am Jungfrau-Marathon teil.» Nichts leichter als das, könnte man meinen, wenn man die 43-jährige Bernerin reden hört.

Die Natur geniessen – das sind für Chantal Cavin nicht die klaren alpinen Farben, wenn sich stahlblauer Himmel von grauen oder verschneiten Bergspitzen abzeichnet. Und auch nicht die ersten herbstlichen Verfärbungen der Wälder. Die Bernerin ist mit 14 Jahren nach einem Sportunfall von einem Tag auf den anderen erblindet. «Ich höre Kuhglocken bimmeln, es riecht nach Heu, Bergwiesen - und auch nach Kuhfladen», sagt sie und lacht. «Ich spüre die Sonne auf meinem Gesicht oder die Feuchtigkeit des Nebels. Es tönt ganz anders in den Bergen und im Training lasse ich alles auf mich wirken. Im Wettkampf bin ich dann mit anderen Dingen beschäftigt und kann die Natur nicht mit derselben Intensität spüren.»

Oropax gegen «Gegränne»

Der Marathon ist schon für sehende Läuferinnen und Läufer eine grosse Herausforderung, für eine blinde Person ist er hochriskant und äusserst schwierig zu meistern. Warum hat sich Chantal Cavin ausgerechnet dieses Rennen ausgesucht? «Ich bin seit kurzem OK-Mitglied des Jungfrau-Marathon und daher hat es sich angeboten, dass ich hier starte», erklärt die PluSport-Botschafterin, «immerhin hat es den Vorteil, dass das Hinaufrennen schonender für meine Gelenke ist. Und ich habe meinen Guide bereits angewiesen, sich Oropax in ein Ohr zu stecken, damit er mein ‘Gegränne’ nicht hören muss», fügt sie verschmitzt hinzu.

Der Jungfrau-Marathon führt dieses Jahr zum ersten Mal vom Flugplatz Interlaken bis zum auf 2320 Meter gelegenen Eigergletscher. Alljährlich gehen die Bilder um die Welt, wie sich die Teilnehmenden auf der kleinen Moräne kurz vor dem Ziel wie an einer Perlenschnur hintereinander aufreihen. Nebeneinander rennen ist auf diesem engen Bergpfad gar nicht möglich. «Das wird sicher eine Herausforderung», ist sich Chantal Cavin bewusst, «auf 35 Kilometern der Strecke können mein Guide und ich nebeneinander laufen.» Das ist für sie als blinde Läuferin ein grosser Vorteil, da sie durch ein Band mit ihrem Guide verbunden ist. «Aber auf sieben Kilometern der Strecke werden wir unser Tempo gehörig drosseln müssen, sonst wird es zu gefährlich.»

Zwei bis drei Passagen – darunter auch die Moräne – sind enge Bergpfade. Der Guide läuft dort vor Chantal Cavin und muss den Arm, durch das Band mit der verbunden ist, nach hinten ausstrecken. «Das ist nicht besonders praktisch, zumal ich gleichzeitig versuchen muss, genügend Abstand zu halten, um nicht ständig in die Waden meines Guides reinzulaufen», schildert die Bernerin die Ausgangslage. «Hier werde ich sicher nicht besonders konkurrenzfähig sein. Aber letztlich geht es mir hier nicht um die Zeit, sondern um das Erreichen des Ziels.»

Chantal Cavin nimmt als erste blinde Läuferin am Jungfrau-Marathon teil – und wird hoffentlich auch nicht die Letzte sein. Sie will mit ihrer Teilnahme zeigen, dass Dinge trotz einer Behinderung machbar sind, auch wenn sie unmöglich erscheinen. «Es ist für mich eine

schöne Aussage und ich hoffe, dass ich andere dazu motivieren kann, sich trotz eines Handicaps den Herausforderungen zu stellen.»

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